Das Bewegende Seminar
Wolfram Schüffel, Marburg, im November 2015
Das Bewegende Seminar (BS) ist ein Zusammentreffen von Menschen, die in einer problematischen Lebenssituation den Nächsten Schritt in Richtung Problemlösung gehen wollen. Dieser Schritt und seine Umsetzung wird aus unterschiedlichen Perspektiven erarbeitet. Getragen wird die Arbeit aus wechselseitiger Empathie, in die körperliche Selbsterfahrung im JETZT (hier) wie Lebenserfahrung der Beteiligten einfließt.
Zur Durchführung bedarf es eines Zeitraumes von 150 Minuten, der in einem geschützten Raum verbracht wird. Typischerweise treffen sich eine Patientin und ihre Ärztin oder ein Patient und sein Arzt inmitten eines Innenkreises von ca. 12 Personen. Zu diesem gehört eine ärztliche-therapeutisch Bewegende Persönlichkeit (BP). Diese BP begrüsst und befragt die beiden Hauptpersonen in der Reihenfolge Ärztin/Patient, wie sie die derzeitige Situation einschätze. Hiernach führt die BP ein symptomgeleitetes Gespräch anknüpfend an das JETZT (hier) des geschützten Raumes und im Sinne einer Ressourcenaktivierung. Untergeordnet ist also die pathogenetische Orientierung. In dieser ganzen Zeit sprechen ausnahmslos Patient(in) und BP.
Hiernach gehen alle Beteiligten in eine Pause von mindestens 20 (25) Minuten Länge, trinken Kaffee, Tee etc. und haben dabei ihre Handys auf „Aus“ gestellt. – Während dieser Pause treffen sich Veranstaltungsleiter, BP und Abschnittsleiter in einer gesonderten Kleingruppe, um ihre Art des Problematisierens, Positionierens, Dramatisierens und schließlich Atmens/Antizipierens zu besprechen und zu verstehen. Das geschieht keinesfalls im Sinne eines vorwegnehmenden Interpretierens, sondern im Sinne eines Nachspürens und eines Verstehens eigenen Empfindens.
Nach der Pause kommen Alle in den geschützten Raum zurück. Das Wahrgenommene, also nicht nur das Gehörte wird in einzelnen Abschnitten unter den Rubriken Bewegen, Beschweren, Bedeuten, Besinnen diskutiert. Eine (figürliche, nicht metaphorische) Lebensparabel (nach Atmanspacher-Schüffel) wird erstellt. Sie umfasst die Zeit von (Vor-)Geburt bis (antizipiertem) Lebensende. Die Umstände eines Nächsten Schrittes schälen sich heraus, werden wachsend von der BP verbalisiert und schließlich den beiden ursprünglichen Arbeitspartnern zur Beurteilung übergeben. – Diese samt BP waren über zwei Drittel der Sitzung zum unbedingten Schweigen bestimmt gewesen. Die überprüfte und kommentierte Parabel wird dem Patienten/der Patientin übergeben. Zuvor hatten sich die beiden Arbeitspartner auf die endgültige Formulierung des Nächsten Schrittes geeinigt. Man verabschiedet sich insgesamt.
Das Bewegende Seminar reicht in seinen Ursprüngen auf die Entwicklung der Anamnesegruppe in Ulm 1969/70 und deren Begleitung durch die Balinttage von Ascona (1974-1990) zurück. Die Anamnesegruppen wurden vorübergehend (1972- 1979) zu einem DFG-Forschungsprojekt in Ulm und Marburg, später fanden sie Schwerpunkte in (alphabetisch) Aachen, Berlin, Bonn, Dresden, Erlangen, Freiburg, Graz, Homburg/Saar, München, Tübingen und - besonders wegen ihrer Interdisziplinarität hervorzuheben – in Wien. Ab 1983 begann die Übertragung auf das Gebiet der graduierten Bildung, also der Fort- und Weiterbildung. Das geschieht bis zum heutigen Tage in der Psychosomatische Grundversorgung in Bad Nauheim unter Leitung von P. Frevert, W. Merkle und unter meiner Leitung in den 1992 gegründeten Wartburggesprächen. Parallel hierzu erfolgte eine internationale Umsetzung in Zusammenarbeit mit T. Leydenbach (Paris).
Im Rahmen der Flüchtlingsarbeit käme dem BS die Funktion einer kontinuierlichen Fortbildung zu, im Kern also die Bedeutung einer Supervision.
Literatur
Schüffel, W. (1983): Sprechen mit Kranken – Erfahrungen studentischer Anamnesegruppen; Urban und Schwarzenberg, München
Köllner, V., Loew, T. (1998): Anamnesegruppen – salutogenetischer Faktor im Medizinstudium?
in: Schüffel, W. et al. (Hrsg): Handbuch der Salutogenese – Konzept und Praxis, Ullstein Medical, S. 265-270
Petzold, E. (2012): Der Purzelbauch; ein Bericht über die 22. Wartburggespräche, Balint Journal 15: 91-93
Petzold, E. (2015): Bewegungs- und Begegnungsräume, Purzelbäume und Anmerkungen zu den 23. Wartburggesprächen 2015, Balint Journal 16: 58-62
Schüffel, W. (2005): Das Erstgespräch aus ärztlich-phänemonologischer Sicht: Symptomzentriert, Psychodynamische Psychotherapie (pdp); 4: 68-84
Schüffel, W. (2009): Medizin IST Bewegung und Atmen – vom Elend in die Armut und wie aus Wüste Würde wird; Psychosomatische Grundversorgung, S. 67-253
Schüffel, W. (Hrsg) (2012): Wartburgphänomen Gesundheit, Projekte Verlag Cornelius, Halle
Wolfram und Janet Schüffel, Seoul/Marburg, 07.09.11:
Regeln
Diese Hauptlinien der Arbeit konnten streckenweise nur mühsam verfolgt werden. Hier waren aus der Sicht des Berichterstatters drei grundsätzliche Positionen zu beobachten:
- Eine autorität-männlich bestimmte Haltung, die Lösung im Voraus und unabhängig vom Vorgebrachten zu kennen.
- Eine Händlerposition („bargaining“), eine Position, die letztendlich vom Interesse des Leidenden absieht.
- Eine sich selbst in Brustund Bauchraum exploriende Position, die eine Gemeinschaft mit dem Anderen herstellen lässt.
Letztlich ist diese dritte und anzustrebende Position nur durch ganz konsequentes Beharren auf dem Hier und Jetzt herstellbar. Dazu muss eingehalten werden, was im Folgenden als eine Art Merksätze zusammengefasst ist.
- Das Gruppentreffen ist interdisziplinär und schließt Ärzte, Krankenschwestern, Psychologen, Tanztherapeuten und andere Therapeuten ein.
- Einige wenige Teilnehmer präsentieren kurze Fallgeschichten von Patienten, die derzeit in einer Behandlung stehen. Sie formulieren zum Abschluss der zwei- bis dreiminütigen Vorstellung ihr derzeitiges Problem in der Behandlung des Patienten.
- Die Gruppenteilnehmer diskutieren, indem sie der Situation nachspüren und die aufkommenden Empfindungen und Gefühle artikulieren. Aus dieser Gruppenarbeit heraus entwickelt sich die Formulierung zum nächsten Schritt.
- Es gibt kein „richtig“ oder „falsch“. Daher sollte keinesfalls über Diagnosen verhandelt werden. Vielmehr sollte man sich auf Abläufe konzentrieren.
- Es gibt keinerlei Grund, nach Experten zu rufen. Die Gruppe IST der Experte.
- Eine endgültige Lösung wird es nie geben. Vielmehr geht es immer wieder darum, den nächsten Schritt zu tun.
- Der durch das Seminar erlangte Gewinn hängt ausschließlich von der Anstrengung ab, die die Gruppenmitglieder in die Gruppenarbeit des Hier und Jetzt investieren. Weder Literatur noch sog. „Take-home-messages“ sind am Platz.
Fazit: Nehmen Sie die Herausforderung an und beteiligen Sie sich an der Gruppe
Aus:
Schüffel, W. (Hrsg) (2012): Wartburgphänomen Gesundheit, Projekte-Verlag Cornelius, Halle, S. 380-382.
The Moving Seminar - a practice of cross-cultural understanding of symptoms vis-à-vis members of different cultures.
Wolfram Schüffel, Marburg (Germany)
In the past ten years it has been possible to use the concept of the Moving Seminar in international congresses on Psychosomatic Medicine (Dubrovnik, Glasgow, Kobe, Lisbon, Quebec, Saragossa, Seoul, Tokyo). The aim was to interpret a symptom biographically in the Now(here) of the doctor patient relationship and vis-à-vis members of different cultures. This was done in close cooperation with Theo LEYDENBACH (Paris).
There were three different observable positions for dealing with a symptom:
- an authoritarian, paternalistic position
- a bargaining position
- an empathetic, exploratory position.
The third position is the one to aim for but it can only be achieved by consistent insistence on the Now (here).
Seven points should be noted:
- Group meetings should be interdisciplinary, and include doctors, nurses, psychologists, dance and other therapists, lay people (including interpreters!) willing to become aware of different positions and to assimilate them either temporarily or permanently.
- A few participants present short (2 - 3 minutes) case histories formulating their main current problem in the treatment using one single sentence.
- The participants discuss the situation and articulate their feelings and sensual impressions.
- There is no right or wrong in the Now (here).
- There is no reason to call in the experts. The group is the expert.
- There can never be a definite solution but there is always a salutogenic way. The focus should be on taking the Next Small Step.